Zeitenwende im Europäischen Patentrecht
Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Winfried Tilmann, Rechtsanwalt und Mitherausgeber des Kommentars Tilmann/Plassmann, Einheitspatent, Einheitliches Patentgericht.
Am 1. Juni 2023 öffnet das Einheitliche Patentgericht (EPG) für Streitigkeiten über Europäische Patente (EP) und Europäische Patente mit einheitlicher Wirkung (EPeW) seine Tore, genauer gesagt, seinen elektronischen Zugang, denn das Gericht akzeptiert nur elektronische Eingaben unter Benutzung eines maßgeschneiderten EDV-Systems (CMS).
Sicherlich werden schon am ersten Tag die ersten Patentverletzungsklagen bei den Eingangs-Abteilungen (in Brüssel, Den Hag, Düsseldorf, Hamburg, Helsinki, Kopenhagen, Laibach, Lissabon, Mailand, Mannheim, München, Paris oder Wien) und die ersten Patentnichtigkeitsklagen bei der Zentralabteilung des Gerichts in Paris eintreffen (das Berufungsgericht in Luxemburg muss noch etwas auf Arbeit warten).
Einheitspatent: 24 teilnehmende Staaten, aber auch prominente Outsider
An diesem Tag tritt das Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ von 2013) in Kraft, das von 24 kontinentaleuropäischen Staaten (teilnehmenden Mitgliedstaaten, TMS) gezeichnet und (derzeit) von 17 TMS ratifiziert worden ist (die Ratifikationen von Griechenland, Irland, Rumänien, Slowakei, Tschechische Republik, Ungarn und Zypern stehen im Januar 2023 noch aus; dann gehören dem System 24 TMS an). Prominente Outsider sind Polen und Spanien. Das Vereinigte Königreich hatte sich mit dem Brexit ausgeklinkt.
Ebenfalls ab 1. Juni 2023 beginnt das Europäische Patentamt (EPA) in München mit der Eintragung von EP, die mit gleichen Ansprüchen in allen TMS erteilt worden sind, in das bei ihm geführte Register für den einheitlichen Patentschutz (Antragsfrist: 1 Monat ab Erteilung).
Unterlassungsanspruch für alle teilnehmenden Mitgliedstaaten
Damit entstehen Europäische Patente mit einheitlicher Wirkung (EPeW). Einheitlich ist bei diesen EP ein Unterlassungsanspruch für alle TMS mit seinen Beschränkungen, einschließlich der Erschöpfung, und das anwendbare nationale Recht für das EPeW als Gegenstand des Vermögens (insbesondere für Übertragung und Lizenz).
Tilmann / Plassmann
Einheitspatent, Einheitliches Patentgericht
Einheitspatent, Einheitliches Patentgericht
VO 1257/2012 (EPatVO), VO 1260/2012 (EPatÜbersV), EPGÜ, EPGVerfO
Die dem zu Grunde liegende Einheitspatent-VO (EU) Nr.1257/2012 (EPatVO) wird ergänzt durch eine Einheitspatent-Übersetzungs-VO (EU) Nr. 1260/2012 (EPatÜbersVO), die eine Übersetzungspflicht für das EPeW (auf Antrag) nur für gerichtliche Streitsachen vorsieht.
Mit dem Tätigkeitsbeginn des EPG und dem Wirksamwerden von EPatVO und EPatÜbersVO setzt eine Zeitenwende im Europäischen Patentrecht ein, die Europa mit einem Schlag auf das Niveau der Rechtsdurchsetzung in den USA, Japan, Korea und China, den großen Wettbewerbern Europas, bringt: Die einheitliche Patenterteilung ist seit 1973 durch das Europäische Patentübereinkommen (EPÜ) und das hierdurch geschaffene Europäische Patentamt (EPA) gesichert.
Fast 50 Jahre langes Warten
Auf die zweite Hälfte, das einheitliche Rechtsfolgenrecht (materielles Patentrecht) und die einheitliche gerichtliche Durchsetzung, einschließlich eines gerichtlichen Schutzes gegen zu Unrecht erteilte Patente, mussten die Erfinder und die Patente haltenden Unternehmen in Europa, aber auch die Schutzsuchenden aus aller Welt, fast 50 Jahre lang warten. Haupthindernis war die Sprachenfrage, die heute noch Spanien vor einem Beitritt zögern lässt.
Learning by doing ist beim Einheitspatent sicher nicht ratsam
Auf die Praktiker des Patentrechts kommt mit dieser Zeitenwende eine große Masse neuen, vielschichtigen Rechts zu. Dem Orgelspieler vergleichbar muss er gleichzeitig auf mehreren Manualen und auf Pedalen gleichzeitig spielen, und die Melodien greifen vielfach ineinander.
Sicher nicht ratsam wäre es, sich unvorbereitet in dieses Abenteuer zu stürzen, etwa nach dem Prinzip: learning by doing. Dieses Prinzip gilt uneingeschränkt für das EDV-System des EPG. Das kann man in der Tat nur durch Ausprobieren lernen. Wer aber schon Übung aus der heimischen Gerichts-EDV (in Deutschland: beA) mitbringt, wird sich da rasch zurechtfinden.
Anders beim Nebeneinander von
(1) (weiter möglichem) nationalem Patentschutz,
(2) dem Schutz von EP und EPeW durch das EPG und – in der 7-jährigen Übergangszeit optional oder mit Opt-out ausschließlich –
(3) durch die nationalen Gerichte.
Hier muss der Patentrechtler seine Tasten und Pedale gut kennen, um die richtige Vorentscheidung für einen zu führenden Rechtsstreit zu treffen.
Neue Rechtsfragen, neue Herausforderungen
Anders auch bei den zahlreichen neuen Rechtsfragen, die sich bei der Anwendung der – manchmal versteckten - neuen Vorschriften des EPGÜ und der beiden VOen ergeben. Hinzu kommen die völlig neuen Regeln der umfangreichen Verfahrensordnung, einer EPG-eigenen Zivilprozessordnung, die der Praktiker, der im Prozess vor einer eventuell kurzfristig zu treffenden verfahrenstaktischen Entscheidung steht, wenn nicht verinnerlichen, so doch rasch auffinden können muss.
Alles kein Hexenwerk, die EDV gibt nützliche Hinweise, Templates für die Richter sind auch für Anwälte und (vertretungsberechtigte) Patentanwälte einsehbar. Dennoch empfiehlt sich ein rechtzeitiges häusliches Studium der Rechtstexte und des hierzu erscheinenden Schrifttums nach dem Merkspruch: Vorbereitung ist alles.
Intellektuelle Leckerbissen
Für den neben der handwerklichen Praxis auch rechtswissenschaftlich Interessierten ergeben sich eine Reihe intellektueller Leckerbissen. So ist das EPGÜ (englisch: UPCA) während der UK-Teilnahme an den Vorbereitungsarbeiten auf den mageren Regelungskern von TRIPs und der Durchsetzungs-RL beschränkt worden, also auf die Entscheidungsermächtigungen für die Richter.
3 Beispiele:
(1) Für den seit dem römischen Recht und dem Code Civil Napoleons privatrechtlich denkenden Kontinent (quae sit actio?), von dem Vereinigten Königreich nun unter Zurücklassung der englischen Sprache verlassen, stellt sich die Aufgabe, zu den geregelten Entscheidungsrechten des EPG den dazugehörigen Anspruch hinzuzudenken, der (was für EP nicht geregelt ist) abtretbar ist und der (das ist geregelt) verjähren kann.
(2) Die long-arm-jurisdiction des EPG, über die Grenzen des TMS-Bereichs hinaus, setzt gute Kenntnisse der Brüssel Ia-VO und des LugÜ voraus.
(3) Das Vollstreckungsrecht für verfahrensbegleitende Anordnungen und für Endentscheidungen mit seinem Nebeneinander von Zwangsgeld und nationaler Vollstreckung stellt eigene Anforderungen.
Europa kann stolz sein auf ein lange erwartetes, aber insgesamt gelungenes ergänzendes Regelungswerk für das, was seine Stärke ausmacht: Erfindungsgeist und die Bereitschaft zur Nutzung neuer Technologie.