Produktsicherheit und Verbraucherkompetenz – Zur Anwendung der Produktsicherheitsverordnung 2023/988 und der Produkthaftungsrichtlinie 2024/2853

Die neue Produktsicherheitsverordnung (GPSR) 2023/988 und die Produkthaftungsrichtlinie (ProdHaftRL) 2024/2853 definieren zusammen ein harmonisiertes europäisches Produktsicherheitskonzept. Während Prävention auf der Vermeidung von Produktrisiken beruht, regelt die verschuldensunabhängige Haftung Sanktionen für fehlerhafte Produkte. Dieser Beitrag beleuchtet, wie das allgemeine Sicherheitsgebot und die koordinierte Marktüberwachung Verbraucherschutz und Produktsicherheit europaweit gewährleisten.

 

von Dr. Ekkehard Helmig, Wiesbaden

 

I. Einleitung

1. Prävention und Sanktion im EU-Produktsicherheitsrecht

Prävention zur Vermeidung von Produktrisiken ist der gesetzlich normbasierte Kern der ProduktsicherheitsVO 2023/988 [1]* (im Weiteren „GPSR“ – General Product Safety Regulation). Verschuldensunabhängige Sanktion für zurechenbar verursachte fehlerhafte Produkte ist der Kern der ProdHaftRL 2024/2853 [2]. Beide stehen in einem sich untrennbar bedingenden Kontext [3]. Die staatliche Marktüberwachung [4] auf Unionsebene und auf der Ebene der Mitgliedsstaaten (ProdHaftRL EG 4) dient der Fernhaltung nicht konformer Produkte vom Unionsmarkt und koordiniert die Durchsetzung der Präventions- und der Sanktionsziele. Ihre aufeinander abgestimmten Mechanismen zusammen verwirklichen das auf Art. 114 und Art. 169 AEUV gestützte, im gesamten Unionsrechtsrahmen verankerte europäischen Produktsicherheitskonzepts [5].

2. Allgemeines Sicherheitsgebot für alle Produkte

Im Vordergrund der GPSR und der ProdHaftRL steht zwar vornehmlich der Verbraucherschutz. Das daraus abgeleitete generelle Schutzniveau gilt haftungsneutral aber grundsätzlich für alle Produkte: Niemand soll durch Produkte, gleich wo, wann und wie er sie anwendet, verletzt werden (dürfen). Das allgemeine Sicherheitsgebot nach Art. 5 der GPSR gilt für alles: „Die Wirtschaftsakteure dürfen nur sichere Produkte in Verkehr bringen oder auf dem Markt bereitstellen.“ Deshalb kann in diesem Beitrag auf die eher willkürlichen Abgrenzungen der Sicherheitsanforderungen für Verbraucherprodukte und gewerblich genutzte Produkte verzichtet werden.

 

*Anm.: Die Quellen sind am Ende des Beitrags im Quellenverzeichnis zusammengefasst.

 

II. Der Gemeinsame Rechtsrahmen für die Vermarktung von Produkten

1. Der Beschluss 768/2008

Prävention ist ein generischer Begriff für die gesetzlich vorgegebenen Vermeidungsstrategien gegen Produktrisiken. Der Unionsgesetzgeber hält dafür ein umfassendes Instrumentarium bereit. Er auferlegt den Herstellern die Befolgung des Instrumentariums und erwartet seine wirksame Umsetzung bei der Entwicklung, Herstellung und Vermarktung der Produkte. EG 12 der ProdHaftRL 2024/2853 verweist dafür auf den Beschluss Nr. 768/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates „über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für die Vermarktung von Produkten“ [6], in dem (EG 12 d. ProdHaftRL) „allgemeine Grundsätze und Musterbestimmungen festgelegt (werden), die in allen sektorspezifischen Produktvorschriften angewandt werden sollen“. Art. 1 des Beschlusses legt den ausnahmslos geltenden Rahmen fest: „Produkte, die in der Gemeinschaft in Verkehr gebracht werden, müssen mit allen geltenden Rechtsvorschriften übereinstimmen.“ Die Wahrnehmung und die Anwendung dieses zeitlos fundamentalen Beschlusses in Rechtsprechung, Literatur und Behördenhandeln sind allerdings erschreckend gering. Eine Erläuterung dazu in aller Kürze:

 

2. Die ergänzende VO 765/2008

Der von dem Beschluss Nr. 768/2008 bestimmte „gemeinsame Rechtsrahmen“, ergänzt durch die VO 765/2008 „über die Vorschriften für die Akkreditierung und Marktüberwachung im Zusammenhang mit der Vermarktung von Produkten (EG 2)“ [7], umfasst das für alle Produkte geltende EU-Konformitätsbewertungsrecht [8]. EG 6 der VO 765/2008 stellt die eingangs erwähnte Interdependenz zwischen der GPSR, der ProdHaftRL und der MarktüberwachungsVO 2019/1020 hervor: „Mit der Richtlinie 2001/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. Dezember 2001 (jetzt die GPSR, d. Verf.) über die allgemeine Produktsicherheit wurden Regeln zur Gewährleistung der Sicherheit von Verbrauchsgütern aufgestellt. Die Marktüberwachungsbehörden sollten die Möglichkeit besitzen, die ihnen im Rahmen jener Richtlinie zur Verfügung stehenden spezielleren Maßnahmen zu ergreifen.“ Das EU-Konformitätsbewertungsrecht soll präventiv sicherstellen, dass nur mit den einschlägigen Sicherheitsvorschriften übereinstimmende Produkte Verbraucher oder sonstige Nutzer erreichen.

 

III. Konformitätsvermutung von Normen

1. Normen im Produktsicherheitsrecht

Die Konformität von Produkten wird von europäischen Normen und technischen Spezifikationen bestimmt, die auf der Grundlage der NormungsVO 1025/2012 [9] erlassen wurden. Normen sind (EG 9 der NormungsVO) maßgebliche Instrumente der EU-Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung. Diese Instrumente werden von der Kommission ständig fortgeschrieben und der technischen Entwicklung angepasst. [10] Nach Art. 7 Abs. 1 der GPSR wird vermutet, „dass ein Produkt mit dem allgemeinen Sicherheitsgebot gemäß Artikel 5 dieser Verordnung konform ist“, wenn es u. a. mit nach der NormungsVO 1025/2012 erlassenen – insbesondere harmonisierte europäische Normen [11] – Normen übereinstimmt. Diese Normen, internationale Normen und die Bestimmungen internationaler Übereinkommen etc. werden nach Art. 8 der GPSR bei der Bewertung der Sicherheit von Produkten herangezogen. [12]

2. Normen im Vertragsrecht

Konflikten um Produktsicherheit und den Sanktionen daraus gehen in der Regel vertragliche Vereinbarungen zwischen dem Hersteller oder dem Händler voraus, die weder in der GPSR noch in der ProdHaftRL direkt angesprochen sind. Jeder Konflikt ist deshalb auch ein Konflikt um Vertragsrechte, die auch von Normen bestimmt werden. Die Richtlinie 2019/770 „über bestimmte vertragliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen“ [13] (Art. 8 Abs. 2 a) und die Richtlinie 2019/771 „über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs“ [14] (Art. 7 Abs. 1 a) erheben nach der NormungsVO 1025/2012 erlassene Normen zu Beschaffenheitsmerkmalen von vertraglich erlangten Produkten. Die in diesen Richtlinien geforderten Beschaffenheitsmerkmale sind von Formulierungsdifferenz abgesehen identisch mit den Anforderungen an sichere Produkte nach der GPSR. Sie müssen in der Anwendung berücksichtigt werden. Die Umsetzung beider Richtlinien in dem ab dem 1.1.2022 geltenden neuen deutschen Kaufrecht vernachlässigt diese wichtigen Aspekte.

 

IV. Normbasierte Qualitätsmanagementsysteme

1. Die harmonisierte Norm EN ISO 9001:2015

Diese im EU-Konformitätsbewertungsrecht technikneutralen Normen stellen produktspezifische Anforderungen (z.B. das Verbot von gefährlichen Inhaltsstoffen). Sie geben auf der Grundlage von Anhang II des Beschlusses 768/2008 verbindliche Vorgaben für die Entwicklung und die Herstellung von Produkten. Diese Vorgaben werden durch Qualitätsmanagementsysteme entsprechend der harmonisierten europäischen Norm EN ISO 9001:2015 (im Weiteren „QMS“; Modul H in Anhang II des Beschlusses 768/2008) gesichert.

Ein der harmonisierten Norm EN ISO 9001:2015 entsprechendes QMS ist unter dem übergeordneten Begriff der „Übereinstimmung der Produktion“ [15] das Herzstück für die Pflichten der Hersteller (Art. 7 Abs. 1 der GPSR): „Wenn Hersteller ihre Produkte in Verkehr bringen, gewährleisten sie, dass diese Produkte im Einklang („Übereinstimmung der Produktion“, d. Verf.) mit dem allgemeinen Sicherheitsgebot gemäß Artikel 5 entworfen und hergestellt wurden.“ Davor, also präventiv, führen die Hersteller (Art. 7 Abs. 2; EG 33; Hervorhebung d. d. Verf.) „eine interne Risikoanalyse durch und erstellen technische Unterlagen, die mindestens eine allgemeine Beschreibung des Produkts und seiner für die Bewertung seiner Sicherheit relevanten wesentlichen Eigenschaften enthalten“. [16]

2. „Geeignete Verfahren“ für die „Übereinstimmung der Produktion“

Das Ergebnis der entsprechend der EN ISO 9001:2015 normbasierten „internen Risikoanalyse“ muss – präventiv – die aus der Entstehungsgeschichte des Produkts (Entwicklung) belastbare und belegbare Prognose (Konformitätsvermutung) eines sicheren Produkts sein. Was für die Entstehungsgeschichte eines Produkts gilt, gilt erst recht für die Serienfertigung. Art. 9 Abs. 4 der GPSR schreibt – ebenfalls präventiv - die „Übereinstimmung der Produktion“ nach den Verfahren der EN ISO 9001:2015 vor (Hervorhebung d. d. Verf.): „Die Hersteller stellen durch geeignete Verfahren sicher, dass bei in Serien gefertigten Produkten stets die Konformität mit dem allgemeinen Sicherheitsgebot gemäß Artikel 5 gewährleistet ist.“ Die „geeigneten Verfahren“ nach dem Sicherheitsgebot müssen belegbar am Ende der Serienfertigung gegriffen haben, also vor dem Inverkehrbringen und vor der Bereitstellung auf dem Markt.

 

In einem auf der EN ISO 9001:2015 beruhenden und für alle Produkte geltendes QMS sammelt sich wie in einem Schmelztiegel technisches Normen-Know-how, das mit der dem QMS innewohnenden systemischen Prozessdisziplin die angesprochenen Wirtschaftsakteure befähigt, Normen im Einklang mit verbindlichen gesetzlichen Zielsetzungen zum Wohle der „interessierten Parteien“ (EN ISO 9001:2015, 4,2; 5.2.2. c), den Produktnutzern (Verbrauchern), rechtswirksam anzuwenden. [17]

Die Forderungen der GPSR (Art. 9 Abs. 2) nach einer „internen Risikoanalyse“ und nach „geeigneten Verfahren“ (Art. 9 Abs. 4) zur Gewährleistung des allgemeinen Sicherheitsgebots (Tatbestandsseite) müssen zum Abgleich gegen die Sanktionsseite (Rechtsfolgeseite) mit den berechtigten Erwartungen der Fehlerfreiheit von in Wechselwirkung stehenden Produkten (Art. 7 Abs. 1 der ProdHaftRL) gespiegelt werden. Die Aufzählungen der Ursachen der Fehlerhaftigkeit von solchen Produkten in Art. 7 Abs. 2 der ProdHaftRL entsprechen in der Gesamtbetrachtung spiegelbildlich den normbasierten Forderungen der „Übereinstimmung der Produktion“ unter der Geltung der harmonisierten europäischen Norm EN ISO 9001:2015.

 

3. Der Schlüsselbegriff „Wechselwirkung“

Dem entsprechend der EN ISO 9001:2015 normbasierte Regime der GPSR (Art. 7 und 8 der GPSR) und der ProdHaftRL (EG 12) liegt der sowohl für dieses Rechtsakte wie für die EN ISO 9001:2015 wesentliche Schlüsselbegriff der „Wechselwirkung“ zugrunde. Der Begriff beschreibt voneinander abhängigen und/oder sich gegenseitig beeinflussenden technischen verfahrensbestimmte Abläufe (in der Normsprache „Prozessen"). [18] Beide gesetzlichen Regelwerke erfassen sowohl in ihren (wenn auch wörtlich nicht ganz gleichlautend, so aber dem Sinn nach [19]) Produkt-Definitionen und in Vorschriften (z.B. EG 32 der ProdHaftRL) die „Wechselwirkungen“ zwischen Produkten. Bei der Bewertung der Sicherheit von Produkten, so Art. 7 Abs. 1 b), ist die „Einwirkung (eines Produkts) auf andere Produkte (zu berücksichtigen), wenn eine gemeinsame Verwendung des Produkts mit anderen Produkten einschließlich der Verbindung dieser Produkte, vernünftigerweise vorhersehbar ist“. Ergänzend muss nach Art. 7 Abs. 1 c) der GPSR „die mögliche Einwirkung anderer Produkte auf das zu bewertende Produkt (berücksichtigt werden), wenn eine gemeinsame Verwendung anderer Produkte mit dem Produkt vernünftigerweise vorhersehbar ist, wobei bei der Bewertung der Sicherheit des zu bewertenden Produkts die Einwirkungen nicht eingebetteter Gegenstände, die die Funktionsweise des zu bewertenden Produkts beeinflussen, ändern oder vervollständigen sollen, zu berücksichtigen ist“. Die Relevanz besteht vor allem bei elektrischen und elektronischen Produkten (einschließlich ihrer Software als „Konstruktionsteil“ [20]) im gesamten Bereich der Cybersicherheit. Die Folgen dieser „Wechselwirkung“ von Produkten kann, darauf kann hier nur hingewiesen werden, die Verantwortlichkeiten eigentlich nicht in Beziehung stehender Hersteller wesentlich erweitern (Art. 13 Abs. 2 GPSR).

Das Gebot, die Wechselwirkung von Produkten als spezifische Produkteigenschaft in die Produktsicherheitsstrategien zu integrieren, hindert jeden Hersteller daran, sich seine Verantwortlichkeit nur seines Produkts unter Ausblendung seiner potenziellen Wechselwirkung zu berufen. Das Gebot erweitert schon in der Entwicklung seines Produkts einschließlich der dafür vorgeschriebenen Informationen (Art. 9 Abs. 7 GPSR) die nach dessen Inverkehrbringen ohnehin bestehende Produktbeobachtungspflicht.

 

V. Cybersicherheit nach der UN-ECE R 155

1. Spezifisches Cybersicherheitsmanagementsystem

Die der Prävention dienende prognostische Fähigkeit des Herstellers zur Befolgung des allgemeinen Sicherheitsgebots für komplexe Produkte, insbesondere aus neuen Technologien unter KI-Anwendung, genügender und abgesicherter Kriterien kann normativ nicht definiert werden. Die UN-ECE R 155 [21] z.B. verlangt (Ziffer 6.2) die Einrichtung eines spezifischen Cybersicherheitsmanagementsystems (im Weiteren „CSMS“), für das der Hersteller eine besondere, zeitlich befristete Konformitätsbescheinigung vorlegen muss, bevor er hinsichtlich der Cybersicherheit eine Typgenehmigung für ein Fahrzeug, ein System [22] oder eine selbständige technische Einheit [23] beantragen darf. 

 

Der Hersteller muss dokumentierte Nachweise vorlegen, „um Folgendes sicherzustellen:

  1. Erfassung und Überprüfung der gemäß dieser Regelung erforderlichen Informationen über die gesamte Lieferkette, um nachzuweisen, dass lieferantenbezogene Risiken ermittelt und bewältigt werden;
  2. Dokumentationen der Risikobewertung (während der Entwicklungsphase oder nachträglich), der Testergebnisse und der Minderungsmaßnahmen bezogen auf den Fahrzeugtyp, einschließlich konstruktionsbezogener Informationen zur Untermauerung der Risikobewertung;
  3. Implementierung geeigneter Cybersicherheitsmaßnahmen bei der Konzeption des Fahrzeugtyps;
  4. Erkennung von und Reaktion auf mögliche Cyberangriffe;
  5. Protokollierung von Daten zur Unterstützung der Erkennung von Cyberangriffen und Bereitstellung von Datenforensik, um eine Analyse versuchter oder erfolgreicher Cyberangriffe zu ermöglichen“.

2. Funktion der Datenforensik

a) Risikovermeidung und rückwirkende Risikoanalyse

Das in der UN-ECE R 155 – sie ist Bestandteil des EU-Typgenehmigungsrecht nach der TypgenehmigungsVO 2018/858, Art. 57 [24] – verlangte CSMS bezeichnet (Absatz 2.3): „“einen systematischen, risikobasierten Ansatz (gleichbedeutend mit dem Begriff des „risikobasierten Denkens“, des „prozessorientierten Ansatzes“ im Verständnis der daraus bedingten Wechselwirkungen nach der EN ISO 9001:2015, 0.3.1, d. Verf.) zur Festlegung von organisatorischen Abläufen, Zuständigkeiten und Governance (Art. 9 Abs. 4 GPSR, d. Verf.) mit Risiken im Zusammenhang mit Cyberbedrohungen für Fahrzeuge und beim Schutz von Fahrzeugen vor Cyberangriffen“. Für die Prüfung und Bewertung des CSMS verlangt die Genehmigungsbehörde (Absatz 5.1.1. e) die „Protokollierung von Date zur Unterstützung der Erkennung von Cyberangriffen und Bereitstellung von Datenforensik, um eine Analyse verursachter oder erfolgreicher Cyberangriffe zu ermöglichen“. Datenforensik erfasst demnach sich gegenseitig bedingend (i) die ständige Befähigung des Herstellers, schon in der Konzeption des Produkts Mechanismen der Vermeidung von Cyberrisiken zu implementieren und (ii) im Umfang seiner Produktbeobachtungspflichten erfolgreiche Cyberangriffe nachträglich auf die Schwachstellen seines Produkts zurückzuführen.

b) Risikobewertung von Wechselwirkungen

Die Genehmigung wird versagt (Ziffer 5.1.3 a), wenn der Hersteller die Forderungen aus Ziffer 7.3.3 nicht erfüllen kann (Hervorhebung d. d. Verf.):

„Der Fahrzeughersteller muss die kritischen Elemente des Fahrzeugs ermitteln, eine erschöpfende Risikobewertung für den Fahrzeugtyp durchführen und mit den ermittelten Risiken angemessen umgehen bzw. sie bewältigen. Bei der Risikobewertung sind die einzelnen Elemente des Fahrzeugtyps und ihre Wechselwirkung zu berücksichtigen. Bei der Risikobewertung sind ferner Wechselwirkungen mit sämtlichen externen Systemen zu berücksichtigen.“ Anhang 5 der UN-ECE R 155 enthält einen umfangreichen, nicht abschließenden Katalog von Bedrohungsszenarien, die bei der Risikoanalyse und Risikobewertung – präventiv – antizipierend berücksichtigt werden müssen. Die Anforderungen für die Risikoanalyse und die Risikobewertung gehen über die Anforderungen aus Art. 9 Abs. 2 und Abs. 4 GPSR hinaus. Sie sind im Kontext der EN ISO 9001:2015 in der „Übereinstimmung der Produktion“ zu erfüllen. Ziffer 9 der UN-ECE R 155 „Übereinstimmung der Produktion“ stellt den direkten Bezug zur ISO 9001:2008 (jetzt 2015) her (Ziffer 9.1). Ziffer 9.2 verlangt:

„Der Inhaber der Genehmigung (der Hersteller, d. Verf.) muss sicherstellen, dass die Ergebnisse der Prüfung der Übereinstimmung der Produktion aufgezeichnet werden und die zugehörigen Unterlagen während eines nach Absprache mit der Behörde […] festgelegten Zeitraums verfügbar bleiben.“

 

VI. Unklare Produktdefinitionen in der GPSR und in der ProdHaftRL

Neue Technologien machen Produkte komplexer und risikoanfälliger (GPSR, EG 25). Die GPSR unternimmt es deshalb, das EU-Sicherheitskonzept „in Anbetracht der Entwicklung im Zusammenhang mit neuen Technologien“ zu aktualisieren, „um für Kohärenz mit den Entwicklungen der Harmonisierungsrechtsvorschriften und Normungsrechtsvorschriften der Union, eine bessere Funktionsweise von Produktsicherheitsrückrufen […] zu sorgen“ (EG 2). Die Komplexität durch neue Technologien bestimmte, in Wechselwirkung stehende Produkte führt allerdings dazu, dass der Produktbegriff immer weniger eindeutig wird. Die Begriffsbestimmungen der GPSR (Art. 3 Nr. 1 bis 3) sind durch unbestimmte Rechtsbegriffe geprägt, die geklärt sein müssen, bevor über die Konformität des Produkts mit ebenso interpretationsbedürftigen Harmonisierungsrechtsvorschriften entschieden werden kann.

1. Produktdefinition der GPSR

Für die Zwecke der GPSR bezeichnet der Ausdruck

  1. „Produkt“ jeden Gegenstand, der für sich allein oder in Verbindung mit anderen Gegenständen entgeltlich oder unentgeltlich — auch im Rahmen der Erbringung einer Dienstleistung — geliefert oder bereitgestellt wird und für Verbraucher bestimmt ist oder unter vernünftigerweise vorhersehbaren Bedingungen wahrscheinlich von Verbrauchern benutzt wird, selbst wenn er nicht für diese bestimmt ist;
  2. „sicheres Produkt“ jedes Produkt, das bei normaler oder vernünftigerweise vorhersehbarer Verwendung, was auch die tatsächliche Gebrauchsdauer einschließt, keine oder nur geringe mit seiner Verwendung zu vereinbarende, als annehmbar erachtete und mit einem hohen Schutzniveau für die Gesundheit und Sicherheit der Verbraucher vereinbare Risiken birgt;
  3. „gefährliches Produkt“ jedes Produkt, bei dem es sich nicht um ein sicheres Produkt handelt;“

 

2. Produktdefinition in der ProdHaftRL

Die ProdHaftRL definiert (Art. 4 Nr. 1)

„Produkt bezeichnet jede bewegliche Sache, auch wenn diese in eine andere bewegliche oder unbewegliche Sache integriert oder damit verbunden ist; unter Produkt sind auch Elektrizität, digitale Konstruktionsunterlagen, Rohstoffe und Software zu verstehen“. Nach dem Anspruch der ProdHaftRL (EG 2), „die Kohärenz und Übereinstimmung mit den Rechtsvorschriften über Produktsicherheit und Marktüberwachung auf Unionsebene und auf nationaler Ebene zu gewährleisten“, wäre es angemessen gewesen, für beide Rechtsakte kongruente Produktdefinitionen zu verwenden, um die Kohärenz von Prävention und Sanktion nach Verbraucher- und Nutzerkategorien abzusichern.

Der Katalog der Kriterien für die Feststellung der Fehlerhaftigkeit von Produkten ist von unbestimmten Rechtsbegriffen geprägt.... mehr

VII. Verbraucherkompetenz und Verbrauchererziehung

1. Nutzerkompetenz nach „Verbraucherkategorien“

Die Feststellung, ob der Hersteller – präventiv – in Anwendung der Legaldefinitionen der GPSR dem ihm auferlegten Sicherheitsgebot nachgekommen ist und ob die aufgrund der Definition der ProdHaftRL – sanktionierte – enttäuschte Sicherheitserwartung des Produktnutzers berechtigt ist, hängt von den unterschiedlichen Perspektiven des Herstellers und des Nutzers ab. Gestützt auf seine „interne Risikoanalyse“ (Art. 9 Abs. 2 der GPSR) geht der Hersteller mit Referenz zu allen Harmonisierungsrechtsvorschriften von der Produktkonformität aus. Er stellt die von ihm geforderten, aus seiner Sicht als nützliche antizipierten Nutzerinformationen bereit (GPSR Art. 9 Abs. 7). Ob seine für die Produktsicherheit notwendigen Annahmen zutreffen, stellt sich erst im Haftungsfall heraus, in dem in der Regel im Haftungsprozess nicht geprüft wird, ob der Produktnutzer die hinreichende Kompetenz im Umgang mit komplexen Produkten hat.

Um jedem Missverständnis sogleich vorzubeugen: Es geht hier nicht im Geringsten um eine Diskriminierung von Produktnutzern. Zu Recht hebt die GPSR (EG 22) das besondere Schutzbedürfnis von Produktnutzern im Allgemeinen und dem von besonders vulnerablen Gruppen hervor. Für den Umgang mit komplexen Produkten wie Fahrzeugen oder vernetzten elektronischen Geräten, die eine hohe Eigenverantwortlichkeit voraussetzen, muss die Diskussion über die Nutzerkompetenz und wie sie produktspezifisch erlangt werden kann, erlaubt sein. Art 6 Abs. 1 e) spricht die „Verbraucherkategorien“ an, „die das Produkt verwenden, vor allem durch eine Bewertung des Risikos für schutzbedürftige Verbraucher, wie etwa Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen, sowie die Auswirkungen geschlechtsspezifischer Unterschiede auf Gesundheit und Sicherheit“.

2. Forderungen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Das Thema der Verbraucherkompetenz, hier allgemein verstanden als Produktnutzerkompetenz, ist nicht neu: Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat sich bereits im März 2003 Gedanken zur „Verbrauchererziehung“ gemacht. Er sieht in dem „gebildeten Verbraucher“ die Vorstufe zum „informierten Verbraucher“ und kreiert „Verbraucherkompetenz“ als „eine Voraussetzung für die aktive und umfassende Beteiligung der Bürger an der Gesellschaft“. Und weiter programmatisch: In Hinblick auf die Ziele des Verbraucherschutzes und der dafür installierten Instrumentarien wird an den Verbraucher appelliert:

 

„Die europäischen Verbraucher ihrerseits müssen sich die notwendigen Fähigkeiten und Kenntnisse aneignen, um auf einem immer komplexeren, ausgedehnteren und vielschichtigeren Markt zurechtzukommen. Fähigkeiten und Kenntnisse, um wirksam ihre Rechte wahrzunehmen, ihren Pflichten nachzukommen und alle Möglichkeiten und Garantien ausschöpfen zu können, die die EU zum Schutz ihrer Interessen bietet. Die Verbrauchererziehung ist dazu unerlässlich, damit das Verbraucherschutzkonzept als solches in der Praxis wirksam umgesetzt werden kann und um das Funktionieren des Binnenmarktes und der anderen Politiken gewährleisten zu können.“ [25]

Dazu gehört die bei dem Verbraucher zu unterstellende Einsicht, dass mit neuer Technik hergestellte Produkte auch erhöhte Risiken bedeuten können, die einzugehen er mit dem Erwerb solcher Produkte in Kauf nimmt. [26]

3. Verbraucherkompetenz in der UN-EC R 171

Dieses Verständnis der eigenverantwortlichen Verbraucherkompetenz setzt sich zunehmend auch in „übernationalen Übereinkünften“ (Art. 8 Abs. 1 c) d. GPSR) durch.

Die am 24.9.2024 in Kraft getretene UN-ECE R 171 [27] z.B. greift die Produktnutzerkompetenz für komplexe Fahrassistenzsysteme auf, die (Absatz 2.4) dem immer letztverantwortlichen Fahrer Unterstützung bei der Ausführung operativer und taktischer Funktionen leisten, ihn aber nie ersetzt und auch nicht ersetzen kann. Die UN-Regelung unterscheidet sich von anderen UN-ECE-Regelungen [28] durch die Vermeidung, nur einseitig Bedingungen an den Hersteller zu stellen. Die „Vorschriften“ dieser Regelung relativiert die strengeren Kriterien der Verantwortlichkeit des Herstellers für die Fehlerhaftigkeit nach Art. 7 Abs. 2 der ProdHaftRL durch die unverzichtbare Eigenverantwortlichkeit des Produktnutzers.

Diese Vorschriften sind anwendungs- und situationsbedingt (Einleitung Ziffer 6, DCAS-Merkmale) auslegungsfähig. Sie schrauben durch eine eigene Sprachregelung den sich aus den Produktdefinitionen ergebenden berechtigten Erwartungshorizont des Produktnutzers herunter (Einleitung Ziffer 7):

  1. Bei einigen Anforderungen wird davon ausgegangen, dass sie stets erfüllt sind, auch in allen einschlägigen Prüfungen. Diese Vorschriften sind wie folgt gefasst: „Das System muss …“;
    Beispiel (Einleitung Ziffer 11): Das DCAS muss „über Mittel verfügen, um die kontinuierliche Beteiligung des Fahrzeugführers am Fahrbetrieb und dessen Überwachung zu bewerten“.
  2. Bei einigen Anforderungen wird zwar erwartet, dass das System diese im Allgemeinen erfüllt, aber unter den gegebenen Umständen ist dies möglicherweise nicht immer angemessen oder erreichbar; auch können äußere Störungen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Diese Vorschriften sind wie folgt gefasst: „Das System muss darauf gerichtet sein …“;
    Beispiel (Einleitung Ziffer 10): Das DCAS muss darauf ausgerichtet sein, „das vernünftigerweise vorhersehbare Risiken der missbräuchlichen Verwendung durch den Fahrzeugführer verhindert werden“.
  3. Einige Anforderungen lassen sich nur schwer durch eine direkte Bewertung der Systemleistung überprüfen. Sie lassen sich besser durch eine Bewertung des Systementwurfs überprüfen, z. B. im Wege einer Analyse der Steuerungsstrategien des Systems. Diese Vorschriften sind wie folgt gefasst: „Das System muss so ausgelegt sein, dass …“.
    Beispiel (Einleitung Ziffer 11): „Das DCAS muss so ausgelegt sein, dass der Fahrzeugführer keine anderen Tätigkeiten als das Führen des Fahrzeugs ausübt, die über die vor Inkrafttreten dieser UN-Regelung für das manuelle Führen des Fahrzeugs zulässigen Tätigkeiten hinausgehen, da das DCAS erfordert, dass der Fahrzeugführer in die Fahraufgabe eingebunden bleibt. Daher muss das DCAS über Mittel verfügen (Beispiel a, d. Verf.), um die kontinuierliche Beteiligung des Fahrzeugführers am Fahrzeugbetrieb und an dessen Überwachung zu bewerten“.

4. Forderungen der UN-EC R 171 an Hersteller und Fahrer

Die UN-ECE R 171 trifft in Übereinstimmung mit dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss drei Kernaussagen (Einleitung, Ziffern 14, 15, 16) zur balancierten Verantwortung von Hersteller und Fahrer:

  • „14. Die sichere Verwendung von DCAS setzt ein angemessenes Verständnis der Leistungsfähigkeit des im Fahrzeug verfügbaren DCAS durch den Fahrzeugführer voraus. Die Bereitstellung geeigneter Informationen (Art. 9 Abs. 7 GPSR, d. Verf.) für den Fahrzeugführer ist notwendig, um mögliche Fehlinterpretationen oder Überschätzungen durch den Fahrzeugführer oder Schwierigkeiten mit dem DCAS/der Fahrzeugsteuerung zu vermeiden. Bei der Ausarbeitung dieser UN-Regelung wurde deutlich, dass sichergestellt werden muss, dass der Fahrzeugführer über spezifische oder ausreichende Kenntnisse über die ordnungsgemäße Verwendung des DCAS verfügt. Diese Frage betrifft das breitere Thema der Ausbildung von Fahrzeugführern, das in zwei Richtungen unterteilt werden kann: a) die Verbesserung der Ausbildung und Neubewertung von Fahrzeugführern im Hinblick auf den sicheren Betrieb von mit DCAS ausgestatteten Fahrzeugen und b) die Entwicklung einer einheitlichen Norm (z. B. ISO), in der — zusätzlich zu dieser UN-Regelung — die gemeinsame HMI (Mensch-Maschine-Schnittstelle – Human-Machine-Interface, d. Verf.), Kommunikationstechniken, Betriebsarten, Übersteuerungsmöglichkeiten, Systemmeldungen und -signale usw. für DCAS festgelegt werden. Dadurch wird eine einheitliche HMI für verschiedene DCAS von verschiedenen Herstellern gewährleistet, sodass jeder Fahrzeugführer darauf vorbereitet ist, die verschiedenen Funktionen des DCAS auf sichere Weise zu nutzen.
  • 15. Mit dieser UN-Regelung sollen keine Anforderungen für Fahrzeugführer festgelegt werden. Vielmehr enthält sie die Anforderungen an die Schulungsmaterialien, Meldungen und Signale [29], die die DCAS-Hersteller dem Fahrzeugführer (z. B. zur Prüfung) vorlegen müssen. Allerdings kann weder durch diese UN-Regelung noch von der Typgenehmigungsbehörde durch Vorschriften garantiert werden, dass diese Materialien vom Fahrzeugführer angemessen geprüft und verstanden werden.
  • 16. Der Einsatz von DCAS lenkt die Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit einer ausgewogenen Marketingpolitik, um zu verhindern, dass der Fahrzeugführer die Fähigkeiten des DCAS überschätzt und glaubt, dass die Leistung des Systems besser ist als die eines Assistenzsystems. Die Verwendung irreführender Begriffe in den vom Hersteller bereitgestellten Informationsmaterialien kann beim Fahrzeugführer zu Verwirrung oder zu übermäßigem Vertrauen führen. Um dies zu vermeiden, sollten Begriffe, die von den nationalen Behörden als irreführend eingestuft wurden, in der kommerziellen Werbung für DCAS nicht verwendet werden.“ [30]

Die UN-ECE R 171 (Absatz 15) verlangt wie Art. 9 Abs. 7 der GPSR vom Hersteller die Bereitstellung von verständlichen Materialien für den Fahrzeugführer, das Fahrzeug und seine komplexen, auch mit der Umwelt interagierenden Systemen zu beherrschen. Führerscheinwissen reicht dafür nicht mehr aus. Soweit ersichtlich wird diese Forderung für Fahrzeuge mit anspruchsvollen Assistenzsystemen [31] nicht eingehalten. Handbücher gibt es kaum noch, die angebotene Recherche im Internet oder auf Links zum Fahrzeughersteller führen erfahrungsgemäß in die Irre. Das Fehlen solcher Schulungsunterlagen ist ein gravierender Sicherheitsmangel.

5. Funktion des QMS in der Anwendung der UN-ECE R 171

Wie alle UN-ECE-Regelungen setzt die UN-ECE R 171 (Absatz 12) die Existenz und Anwendung eines wirksamen QMS entsprechend der EN ISO 9001:2015 und damit der „Übereinstimmung der Produktion“ voraus. In diesem Kontext der Verbraucher-/Nutzerkompetenz im Einzelfall zu definierenden Verbraucherkategorie hat die EN ISO 9001:2015 eine unmittelbare Schutzwirkung für den Verbraucher/Nutzer: Sie schützt sie als „interessierte Parteien: Absatz 4.2 „Verstehen der Erfordernisse und Erwartungen interessierter Parteien“ bestimmt: „Aufgrund ihrer Auswirkungen bzw. ihrer potentiellen Auswirkung auf die Fähigkeit der Organisation (des Herstellers, d. Verf.) zur beständigen Bereitstellung von Produkten und Dienstleistungen, die die Anforderungen der Kunden und die zutreffenden gesetzlichen und behördlichen Anforderungen (das sind rechtliche Anforderungen, Abs. 1, Anmerkung 2; Abs. 4.1, Anmerkung 2, d. Verf.) erfüllen, muss die Organisation a) die interessierten Parteien, die für ihr Qualitätsmanagementsystem relevant sind, b) die für ihre Qualitätsmanagementsystem relevanten Anforderungen dieses interessierten Parteien bestimmen. Die Organisation muss Informationen über diese interessierten Parteien und deren relevante Anforderungen überwachen und überprüfen.“

Nach den Allgemeinen Spezifikationen (Absatz 5) muss der Hersteller die Erfüllung der Vorschriften dieses Absatzes gegenüber der Typgenehmigungsbehörde bei der Prüfung (TypgenehmigungsVO 2018/858, Art. 24) des Sicherheitsansatzes (GPSR Art. 8, d. Verf.) im Rahmen der Bewertung nach Anhang 3 (Besondere Anforderungen an das Audit/die Bewertung“, d. Verf.) und in den einschlägigen Prüfungen nach Anhang 4 (Physische Prüfspezifikationen für die DCAS-Validierung, d. Verf.)“ nachweisen. Diese Bedingungen werden durch das der EN ISO 9001:2015 entsprechende QMS erfüllt.

Die UN-ECE R 171 ist mit ihrer Veröffentlichung im EU-Amtsblatt Teil des Unionsrechts. Sie ist nach Art. 8 Abs. 1 c) der GPSR als „internationale Übereinkunft“ bei der Bewertung der Sicherheit von Assistenzsystemen unmittelbar anzuwenden.

 

VIII. Beweislast und Beweislastverteilung

Im Rechtsstreit von Verbrauchern/Produktnutzern um den Ersatz von durch nicht sichere Produkte verursachte Schäden geht es vornehmlich um die Frage der Beweislast und der Beweislastverteilung, wer was vortragen und beweisen muss. Dabei sind die in Art 6 e) GPSR genannten „Verbraucherkategorien“ von Amts wegen zu definieren, um die Waffengleichheit in der Verteilung der Beweislasten unabhängig von der Vermutungsfiktion aus Art. 10, Abs. 4 a) zu sichern.

1. Anforderungen an die Gerichte

Der Weg dazu beginnt bei den nationalen Gerichten. Sie sind nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH dem Effektivitätsgrundsatz verpflichtet. Die Gerichte als Organe der Mitgliedsstaaten haben dafür zu sorgen, dass die durch das Unionsrecht begründeten Rechte der Unionsbürger ungeschmälert durchgesetzt werden können. Dieser Grundsatz wird durch Art. 47 der EU-Grundrechtscharta untermauert. Art. 47 der Grundrechtscharta enthält die Grundsätze für ein faires Verfahren in formeller und in materieller Hinsicht.

2. Transparenzgebot für die Beweisführung

Art. 9 der ProdHaftRL „Offenlegung von Beweismitteln“ setzt diese fundamentalen Grundsätze um. Danach sind die Mitgliedsstaaten verpflichtet, sicherzustellen, dass die Rechte der Kläger und die der Beklagten ausgewogen zur Verfügung stehen und von ihnen gewahrt werden können. Die den Gerichten danach auferlegten Pflichten sind in den Bestimmungen insbesondere der §§ 138 und 139 der ZPO bereits enthalten. [32] Die Wahrnehmung dieser prozessleitenden Pflichten setzt bei den Gerichten allerdings die umfassende Kenntnis aller das EU-Produktsicherheitsrecht prägenden Vorschriften voraus. Das Produktsicherheitsrecht und das darin vollständig erfasste EU-Konformitätsbewertungsrecht zeichnen sich durch eine, nur durch zwingende Geheimhaltungsbestimmungen eingeschränkte, umfassende Transparenz aus, die in der GPSR angesprochen ist.

 

Nach Art. 9 Abs. 1 der GPSR gewährleistet der Hersteller von Produkten, die in den Verkehr gebracht werden sollen, zu gewährleisten, „dass diese Produkte im Einklang mit dem allgemeinen Sicherheitsgebot gemäß Artikel 5 entworfen und hergestellt wurden“. Dazu, so Art. 9 Abs. 2 b) weiter, wird „eine Aufstellung aller einschlägigen europäischen Normen nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a und der anderen Elemente nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe b oder Artikel 8, die angewandt wurden, um dem allgemeinen Sicherheitsgebot gemäß Artikel 5 zu entsprechen“.

Art. 9 Abs. 3 der GPSR stellt sicher, „dass die in Absatz 2 genannten technischen Unterlagen auf dem neuesten Stand sind. Sie halten diese Unterlagen für einen Zeitraum von zehn Jahren ab dem Inverkehrbringen des Produkts für die Marktüberwachungsbehörden bereit und stellen die Unterlagen diesen Behörden auf Verlangen zur Verfügung“. Die unbeschränkte Referenz in Art. 9 der GPSR auf Art. 7 und Art. 8 der GPSR eröffnet den vollständigen Bezug zur NormungsVO 1025/2012 und damit zum EU-Konformitätsbewertungsrecht (Art. 9 Abs. 4) entsprechend dem Beschluss 768/2008.

3. Transparenzgebot und Beweismittel

Die angesprochenen „technischen Unterlagen“ sind „dokumentierte Informationen“ (EN ISO 9001:2015, Absatz 7.5) zugunsten des Verbrauchers/Nutzers als „interessierte Partei“. Nach Absatz 5.2.2. „Bekanntmachung der Qualitätspolitik“ muss die Qualitätspolitik „a) als dokumentierte Information verfügbar sein und aufrechterhalten werden; b) innerhalb der Organisation bekannt gemacht, verstanden und aufrechterhalten werden; c) für relevante interessierte Parteien verfügbar sein, soweit angemessen“.

Die vom Unionsrecht bereitgestellte Transparenz annähernd aller für die Entwicklung, Herstellung und Vermarktung von Produkten produzierten Unterlagen sind Beweismittel, von denen die nationalen Gerichte für die ihnen obliegende prozessleitende Sachaufklärung von Amts wegen Kenntnis haben müssen: Das gesamte Unionsrecht ist Teil des nationalen Rechts. Weder die GPSR (EG 3) noch die ProdHaftRL (Art. 3) lassen den Mitgliedsstaaten Spielraum für materiellrechtliche Abweichungen, mit der zwingenden Folge, dass auch das Prozessrecht keine Einschränkungen in der Anwendung des materiellen Unionsrechts vornehmen darf. Das deutsche Prozessrecht steht dem Gebot, dass die Mitgliedsstaaten die Effizienz der Bestimmungen zur Offenlegung von Beweismitteln (Art. 9 d. ProdHaftRL) und der Beweislast (Art. 10 d. ProdHaftRL), sicherstellen müssen, nicht entgegen.

4. Selbstbeschränkung der Gerichte

Soweit insbesondere aus den Dieselskandalfällen ersichtlich, tun sich Gerichte mit ihren prozessleitenden Sachaufklärungspflichten und dem Hinwirken auf die Parteien, geeignete Anträge zu stellen (§ 139 ZPO), schwer. Das Landgericht Duisburg beispielsweise hatte in zwei Vorlagebeschlüssen dem EuGH [33] zu als gegeben angesehenen, nach Art. 5 der VO 715/2007 [34] unzulässige Abschalteinrichtungen u.a. die Fragen gestellt, ob der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz einer nationalen Regelung entgegenstehe, „die dem Käufer eines Fahrzeugs in vollem Umfang“ den Nachweis einer unzulässigen Abschalteinrichtung auferlegt, „ohne dass der Hersteller des Fahrzeugs in einer Beweisaufnahme hierüber Informationen beisteuern muss“. Das LG hat nicht in Betracht gezogen, dass sich diese Frage konsequenterweise erst stellt, wenn es selbst aufgrund des kontradiktorischen Parteivortrags über den Beibringungsgrundsatz hinaus aus eigener Kompetenz der Rechtsschutzgewährung von seinen prozessleitenden und -fördernden Befugnissen des § 142 und § 144 ZPO Gebrauch gemacht hat, auch wenn Beweisanträge dazu noch nicht gestellt sind.... mehr

5. Empfehlungen des Generalanwalts zu EuGH C-251/23 und C-308/23

In seinen Schlussanträgen vom 21.11.2024 [38] hat Generalanwalt Athanasios Rantos dem Gerichtshof vorgeschlagen zu entscheiden, dass der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz einer nationalen Regelung entgegensteht, „dem Käufer in vollem Umfang aufzuerlegen, das Vorliegen dieser Abschalteinrichtung […] und auch das Nichtvorliegen einer Ausnahme vom Verbot einer solchen Einrichtung […] zu beweisen, ohne dass der Hersteller des Fahrzeugs in einer Beweisaufnahme hierüber Informationen beisteuern muss“.

Artikel 9 „Offenlegung von Beweismitteln“ und Art. 10 „Beweislast“ d. ProdHaftRL gehen allerdings auf die prozessleitenden Pflichten der Gerichte (§ 139 ZPO) nicht ein, sie setzen die Befähigung der Gerichte zu ihrer Wahrnehmung voraus.

6. Verfahrenstransparenz in der Rechtsprechung des EuGH

Das EU-Produktsicherheitsrechts einschließlich des auf Harmonisierungsrechtsvorschriften beruhenden normbasierten EU-Konformitätsbewertungsrechts ist von der Transparenz der zugrundeliegenden Verfahren und die sie produzierende Informationen geprägt. Der EuGH führt das Prinzip der offenen Informationsgesellschaft auch für den Zugang zu Informationen in gerichtlichen Verfahren, deren Offenlegung durch die VO 1049/2001 [39] reglementiert ist, auf den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit zurück. Der „Grundsatz der Transparenz“, so der Gerichtshof weiter, ist damit „untrennbar mit dem Grundsatz der Offenheit verbunden, der in Art. 1 Abs. 2 und Art. 10 Abs. 3 EUV, in Art. 15 Abs. 1 und Art. 298 Abs. 1 AEUV sowie in Art. 42 der Charta verankert ist. Er gewährleistet u. a. eine größere Legitimität und Verantwortung der Verwaltung gegenüber dem Bürger in einem demokratischen System“. [40] Ergänzt durch die Grundsätze des fairen Verfahrens aus Art. 47 der EU-Grundrechtscharta, sind die Beweislastregeln der GPSR und der ProdHaftRL nach diesen Grundsätzen anzuwenden.

 

IX. Beweisführungsinstrumente der ZPO

Aufgrund der durch das EU-Produktsicherheitsrecht bewirkten Transparenz stehen den Parteien annähernd alle für die Verfolgung von Ansprüchen oder ihrer Abwehr erforderlichen Informationen und Unterlagen zur Verfügung. Sie sind deshalb auch für Beweiszwecke zugänglich. Die ZPO stellt dafür ein hinreichendes Instrumentarium zur Verfügung. Es zu nutzen, setzt allerdings bei den Gerichten und bei den Parteien Kenntnisse der Quellen und der Strategien, sie mit den Instrumenten der ZPO zu erschließen, voraus. Dazu einige, notwendig sehr verallgemeinernde, Beispiele zu möglichen Herangehensweisen:

1. Fehlerermittlung durch Rückverfolgung

Art. 9 Abs. 2 bis Abs. 4 der GPSR verpflichtet die Hersteller, umfassende Unterlagen zu produzieren und verfügbar zu halten. Nach der gesetzlichen Zielsetzung der Prävention müssen es Unterlagen sein, die als Voraussetzung für das Inverkehrbringen den Nachweis der Produktkonformität in der Entwicklung und der Herstellung bestätigen müssen. Die Feststellung eines Produktfehlers (z.B. der gebrochene Fahrradlenker) begründet die Vermutung der Nichtkonformität. Die Ursachenermittlung geht den Weg der Rückverfolgung von der Ausfallumgebung zu den Herstellungs- und Entwicklungsprozessen.

2. Ermittlung von Beweismitteln aus dem QMS

Diese Prozesse (hier verkürzt: Verfahren) sind nach der Konformitätsbewertung [41] durch ein QMS entsprechend der EN ISO 9001:2015 [42] organisiert. Alle Prozesse haben einen Prozesseigner (EN ISO 9001:2015, 5.1.1), der immer einen Namen hat (Organigramm). Er ist in die Infrastruktur eingebunden (EN ISO 9001:2015, 7.1.3) und verfügt über oder hat Zugang zu alle(n) Produktunterlagen („dokumentierte Informationen“, EN ISO 9001:2015, 7.5; 5.2.2). Er hat Zugang zu allen technischen Prozessunterlagen einschließlich ihrer Generierung aus der gesamten Entstehungsgeschichte des Produkts (für die Entwicklung EN ISO 901:2015 8.3) bis zur seiner Inverkehrbringung (EN ISO 9001:2015, 8.5). Er kann bei der Rückverfolgung (EN ISO 9001:2015, 8.5.2) die Stelle im Herstellungsprozess lokalisieren, an der der Fehler vermutlich aufgetreten ist (EN ISO 9001:2015, 8.5.1 c). Die Prozessparameter an dieser Stelle (Produktionslenkungsplan, Prozessaufzeichnungen, Regelkarten etc.) lassen eine Eingrenzung der Fehlerursachen im Prozess zu. [43] Die EN 9001:2015 ist das Drehbuch für jede Überlegung zur Prozessleitung nach § 139 ZPO und jede Beweiserhebungsstrategie etwa im Kontext von § 9 d. ProdHaftRL.

3. Unzulässiges Bestreiten mit Nichtwissen oder Unkenntnis

Die EN ISO 9001:2015 (7.1.6) als auch im Beweisverfahren anzuwenden Rechtsvorschrift schließt eine Berufung des Herstellers auf Nichtwissen und Unkenntnis gleich welcher Provenienz aus. Nach dieser verbindlichen Bestimmung „Wissen der Organisation“ muss die oberste Leitung des Herstellers (EN ISO 9001:2015, 5.1 „Führung und Verpflichtung“) „das Wissen bestimmen, das benötigt wird, um ihre Prozesse durchzuführen und um die Konformität von Produkten und Dienstleistungen zu erreiche. Das Wissen muss aufrechterhalten und in erforderlichem Umfang zur Verfügung gestellt werden“. Eine Selektion von Bestimmungen der EN ISO 9001:2015 schließt die Berufung auf diese Norm als Bedingung für die gesetzliche Forderung der „Übereinstimmung der Produktion“ aus (EN ISO 9001:2015, 4.3). Die konsequente Anwendung der EN ISO 9001:2015 als im Haftungsprozess anzuwendende Rechtsnorm versperrte den vom BGH gewählten Weg, auf § 826 BGB gestützte Klagen aus Beweisfälligkeit abzuweisen. Schon die Instanzengericht und die Prozessbevollmächtigten der Parteien haben den EU-Rechtsrahmen, zu dem die EN ISO 901:2015 gehört, nicht ausgeschöpft. [44]

Der Prozesseigner ist möglicher Zeuge (§ 396 ff ZPO). Ihn und/oder sein Umfeld zu ermitteln kann z.B. durch Parteivernehmung des Vorstandes (§§ 445, 448 ZPO) durchgesetzt werden.

4. Dokumentenbeweis aus Genehmigungsverfahren

Noch konkreter als in Art. 9 Abs. 2, Abs. 3, Abs. 4 d. GPSR bestimmt, müssen Hersteller von Produkten, die der Typgenehmigung unterliegen, eine lückenlose Dokumentation (EN ISO 9001:2015, Abs. 7.5, „dokumentierte Informationen“) abliefern, um eine Typgenehmigung zu bekommen. Art. 24 der TypgenehmigungsVO 2018/858 für Fahrzeuge [45] verlangt vom Hersteller die Vorlage einer „Beschreibungsmappe“ und weitere zusätzliche Angaben (Art. 25) zum Fahrzeug. Art. 5 Abs. 2 c) schließt die Typgenehmigungsfähigkeit aus, „wenn die Genehmigungsbehörden, die Marktüberwachungsbehörden oder die Kommission nicht in der Lage sind, eine Herstellerangabe im Beschreibungsbogen (Bestandteil der Beschreibungsmappe, Art. 24 Abs. 1a, d. Verf.) unter den Bedingungen eines einschlägigen Rechtsakts nachzuvollziehen“. Nach Art. 31, Anhang IV der TypgenehmigungsVO („Verfahren zur Kontrolle der Übereinstimmung der Produktion“) findet für die Prozesse (Verfahren) und die Dokumentenintegrität die EN ISO 9001:2015 mit ihren Beweisermittlungsstrategie wie oben dargestellt unmittelbar Anwendung. Der Hersteller kann weder die Existenz noch den Besitz der Unterlagen bestreiten, die er nach Genehmigungsrecht den Behörden selbst physisch vorgelegt haben muss (§ 426 ZPO). Der Hersteller ist zur Vorlegung der in seinen Händen befindlichen Urkunden verpflichtet, auf die er im Prozess zur Beweisführung Bezug genommen hat (§ 423 ZPO, § 424 ZPO, Antrag zu § 423).

Die Vorlage aller im Typgenehmigungsverfahren vom Hersteller und von den Technischen Diensten existierenden Unterlagen und die Offenbarung aller dazu gehörenden Informationen kann nach § 421 ZPO durchgesetzt werden. Daneben besteht der Zugang zu den Behördenunterlagen nach § 432 ZPO. [46]

5. Konformitätsbescheinigungen als Beweismittel

Konformitätsbescheinigungen sind Rechtserklärungen des Herstellers, mit denen er bescheinigt, dass sein Produkt den einschlägigen Rechtsakten des Konformitätsbewertungsrechts und den Harmonisierungsrechtsvorschriften entspricht. Die durch den Bezug auf eine harmonisierte europäische Norm (Art. 2 der NormungsVO 1025/2012) begründete Konformitätsvermutung ist widerleglich. Steht sie in Zweifel, besteht ein Anspruch gegen die Kommission auf Offenlegung der vom Hersteller in Bezug genommenen harmonisierten europäischen Norm. [47] In den Dieselskandalfällen ging es um die Richtigkeit des vom Hersteller erstellten „Übereinstimmungsbescheinigung“, ob das Fahrzeug nach den Vorgaben der „Übereinstimmung der Produktion“ (Art. 31, Anhang IV der TypgenehmigungsRL 2007/46 [48]) hergestellt wurde. In, soweit ersichtlich, allen Dieselskandalfälle ging es um nur fahrlässig erstellte Übereinstimmungsbescheinigungen. Sie hat eine Doppelfunktion: Sie ist eine gesetzlich vorgegebene Konformitätsbescheinigung. Sie ist gleichzeitig eine rechtsgeschäftliche Erklärung des Fahrzeugherstellers an den individuellen Käufer für die Übereinstimmung des gekauften Fahrzeugs mit allen EU-Rechtsvorschriften. [49] Der Hersteller hat (i) eine gesetzliche Aushändigungspflicht an den Käufer, der Käufer hat (ii) einen Rechtsanspruch auf die Aushändigung einer korrekten Übereinstimmungsbescheinigung.

6. Anspruch auf „richtige“ Konformitätsbescheinigungen

Im Haftungsprozess gegen den Hersteller kann die Frage der „nur“ fahrlässig falschen oder der vorsätzlich falschen Übereinstimmungsbescheinigung (Konformitätsbescheinigung) für die jeweiligen Anspruchsgrundlagen (z.B. §§ 823, 823 Abs. 2 i.V.m. § 263 StGB) und einen eventuellen Regress gegen die Genehmigungsbehörde ankommen. Dann stellt sich die Überlegung eines direkten oder analogen Vorgehens nach § 422 ZPO und § 423 ZPO. Der Hersteller ist zur Vorlegung der in seinen Händen befindlichen Urkunden verpflichtet, deren Richtigkeit er beweisen muss (§ 424 ZPO): Der Produkterwerber hat in jeden Fall einen Anspruch auf Erteilung einer richtigen Übereinstimmungserklärung. Man würde mithin im Wege der Klagehäufung neben dem Schadensersatzanspruch den Herausgabeanspruch der richtigen Bescheinigung verlangen. Die Beweisführung führt wieder über die Mechanismen der EN ISO 9001:2015. Die Geständniswirkung nach § 427 Satz 2 ZPO kann dabei prozessentscheidend sein.

7. Beweismittelvorlage durch Dritte

§§ 429, 430 ZPO „Vorlagepflicht Dritter“ gibt zu weiteren prozess- und beweistaktischen Überlegungen Anlass: Es kommt oft vor, dass sich der Hersteller auf die Fehlerhaftigkeit eines Zulieferprodukts beruft (Art. 6 Abs. 1 b) ii); Art 8 Abs. 1 b d. ProdHaftRL). Dem Zulieferer wäre der Streit zu verkünden, um einen möglichen Regress zu sichern.

Im Ergebnis lassen sich alle Pflichten nach Art. 9 „Offenlegung von Beweismitteln“ und Art. 10 „Beweislast“ der ProdHaftRL mit den Beweismechanismen der ZPO aus der EN ISO 9001:2015 ableiten und nutzen.

 

X. Fazit

  1. Die GPSR sichert präventiv die Erwartungen des EU-Gesetzgebers, dass nur sichere Produkte in den Verkehr gebracht oder auf dem Unionsmarkt bereitgestellt werden. Die Marktüberwachung der Union und der Mitgliedsstaaten halten dafür einen wirksamen Kontrollmechanismus bereit.
  2. Die ProdHaftRL steht in einem von der GPSR nicht trennbaren Gesamtkontext. Sie sanktioniert Abweichungen von der GPSR.
  3. Für die Anwendung der GPSR und der ProdHaftRL gilt das gesamte EU-Konformitätsbewertungsrecht auf den Grundlagen des Beschlusses 768/2008 und der VO 7675/2008 als „gemeinsamer Rechtsrahmen“ der Produktsicherheit.
  4. Ein Qualitätsmanagementsystem entsprechend der als harmonisierte europäische Norm einschließlich ihrer Geltung in „übernationalen Vereinbarungen“ wie UN-ECE-Regelungen sichert die Normkonformität von sicheren Produkten.
  5. Der Begriff „Wechselwirkung“ gilt für technische und rechtliche Anforderungen an sich gegenseitig beeinflussenden oder voneinander abhängigen Verfahren und Produkten.
  6. Datenforensik dient der Fähigkeit zur Antizipation von Produktrisiken und den Rückschluss von Fehlern auf ihren technischen und/oder verfahrensbedingten Ursachen.
  7. Unklare Produktdefinitionen in der GPSR und der ProdHaftRL erschweren eine sichere rechtliche und technische Anwendung der Bestimmungen des EU-Produktsicherheitsrechts.
  8. Der Umgang mit komplexen und in Wechselwirkung stehenden Verfahren und Produkten verlangt in jedem Einzelfall Klarheit über die Verbraucherkompetenzen nach definierten Verbraucherkategorien.
  9. Die Regelungen zur Beweislast und zur Beweislastverteilung setzen nach dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit eine hinreichende materielle und formelle Prozessleitungsfähigkeit und -kompetenz der Gerichte voraus.
  10. Ein der EN ISO 9001:2015 entsprechendes QMS hat durch die Einbeziehung von Produktnutzern als „interessierte Parteien“ unmittelbare drittschützende Wirkung.
  11. Die aus der EN ISO 9001:2015 gesicherte Informations- und Dokumententransparenz ermöglicht die Beweisermittlung nach den Bestimmungen der ZPO unter dem Gebot des EU-rechtlichen Effektivitätsgrundsatzes und des fairen Verfahrens aus Art. 47 der EU-Grundrechtscharta.

 

Quellenverzeichnis

[1] ABl. 2023, L 135, 1.... mehr

 

 

Der Autor

Rechtsanwalt Dr. Ekkehard Helmig

Recht der internationalen Automobil- und Zulieferindustrie, Technische Regelwerke

 

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Stand: Dezember 2024

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