Update für das Rechtssystem - Interview mit Prof. Dr. Beate Gsell
Das BGB steht vor den umfangreichsten Änderungen seit der Schuldrechtsmodernisierung im Jahr 2001. Denn gleich drei europäische Richtlinien befinden sich unmittelbar vor ihrer Umsetzung: die Digitale-Inhalte-Richtlinie, die Warenkauf-Richtline und die sogenannte Omnibus-Richtlinie.
Sie befassen sich vor allem mit vertragsrechtlichen Aspekten bei der Bereitstellung digitaler Produkte und dem Schutz des Verbrauchers. beck-aktuell – DAS MAGAZIN sprach mit Professorin Beate Gsell, Rechtswissenschaftlerin und OLG-Richterin in München, über das Update des Bürgerlichen Gesetzbuchs.
Welche Beweggründe stecken hinter den Richtlinien und ihrer Umsetzung?
Prof. Dr. Beate Gsell: Die Richtlinien und allen voran die Digitale-Inhalte-Richtlinie setzen bei der digitalisierungsbedingt gewandelten Vertragswirklichkeit und ihren vertragsrechtlichen Herausforderungen an. Massenhaft geschlossene Verträge über beispielsweise Streaming-Dienstleistungen, den Beitritt zu sozialen Netzwerken, den Zugang zu Cloudspeicherplatz usw. fügen sich nicht bruchlos in die traditionelle Vertragstypologie. Meist handelt es sich um gemischte Verträge, über deren primäre Zuordnung zum einen oder anderen Vertragstyp man oft trefflich streiten kann. Anders als beim klassischen Kauf wird nicht einmalig ein Gegenstand dauerhaft und über eine Absatzkette übertragen. Vielmehr wird der Zugang zu Nutzungsmöglichkeiten versprochen, die – oft über netzartig organisierte Akteure – für einen mehr oder weniger langen Zeitraum bereitgestellt werden. Häufig sind dabei regelmäßige Aktualisierungen erforderlich, schon damit eine sichere Nutzung möglich ist. Außerdem wird oft statt mit Geld mit Daten „bezahlt“.
Die Entwicklung neuer digitaler Produkte ist sehr dynamisch und offenbar noch längst nicht abgeschlossen. Der recht rasante Aufstieg etwa der Videostreamingdienste in den letzten Jahren, aber auch tagtäglich neu angebotene Apps oder Phänomene wie eine personalisierte und automatisierte Preisbildung sprechen insoweit Bände.
Hat der Kaufvertrag, wie wir ihn bislang kennen, also langsam ausgedient?
Gsell: Das wäre übertrieben, aber ein gewisser Bedeutungsverlust des Kaufs ist wohl nicht zu leugnen. Digitale Produkte nutzen wir eben eher, ohne sie zu kaufen. Selbst Standardsoftware wird häufig nur noch zur Nutzung auf Zeit angeboten. Und auch wenn wir beispielsweise ein Smartphone weiterhin kaufen, dann entspricht dennoch die statische – gleichsam eingefrorene – vertragliche Sollbeschaffenheit, wie sie den klassischen Kauf prägt, nicht mehr unseren Bedürfnissen: Auch wenn es bei Gefahrübergang einwandfrei war, ist das Gerät rasch nur noch sicher zu gebrauchen, wenn Updates verfügbar sind.
Ehrlicherweise muss man allerdings sagen, dass der Kauf unser allgemeines Vertragsrecht schon bislang über Gebühr geprägt hat. Die Vorstellung eines punktuellen Austauschvertrages als „Normalvertrag“ war angesichts massenhaft vorkommender Dauerschuldverträge wie etwa der Miete auch bereits in der analogen Vertragswelt problematisch.
Geben die Richtlinien denn treffende und innovative Antworten?
Gsell: Die Richtlinien erheben nicht den Anspruch, das Digitalvertragsrecht umfassend zu regeln. Schon ihre persönliche Beschränkung auf B2C-Verträge macht ihre begrenzte Reichweite deutlich. Neu wird im Wesentlichen nur das Mängelgewährleistungsrecht für digitale Produkte und Sachen mit digitalen Elementen und dessen zeitliche Grenzen geregelt, aber selbst dies nur unvollständig, denn etwa der Schadenersatz bleibt den nationalen Rechtsordnungen überlassen.
Dabei betrifft der Vertrieb digitaler Produkte nicht nur das Vertragsrecht, sondern regelmäßig auch das Urheberrecht und das Datenschutzrecht. Wie die einschlägigen Regime am besten aufeinander abgestimmt werden können, darauf geben die vertragsrechtlich angelegten Richtlinien kaum hinreichende Antworten. Innovativ ist aber aus vertragsrechtlicher Sicht immerhin, dass endlich auch solche Verträge geregelt werden, bei denen der Verbraucher mit Daten „bezahlt“, was ja in der Praxis sehr häufig vorkommt.
Wobei der Datenschutz hier die Regelungsmöglichkeiten begrenzt…
Gsell: In der Tat verträgt sich der vertragsrechtliche pacta sunt servanda-Grundsatz schlecht mit der Vorgabe der Datenschutzgrundverordnung (EU) 2016/679, dass die Einwilligung in die Verarbeitung personenbezogener Daten jederzeit widerrufen werden kann. Verweigert der Verbraucher die „Bezahlung“ mit seinen Daten, so darf der Unternehmer deshalb nicht wie sonst bei vorsätzlicher Leistungsverweigerung berechtigt sein, vertraglichen Schadensersatz geltend zu machen. Die Datenschutzgrundverordnung (EU) 2016/679 in ihrer herrschenden Lesart verbietet es also derzeit, Daten vertragsrechtlich als echte synallagmatische Gegenleistung einzuordnen. Der Regierungsentwurf zur Umsetzung der Digitale-Inhalte-Richtlinie räumt dem Unternehmer deshalb bei vereinbartem „Bezahlen“ mit Daten, aber späterem Widerruf der datenschutzrechtlichen Einwilligung durch den Verbraucher, lediglich ein Kündigungsrecht ein.
Sie erwähnten eben, dass sich wesentliche Veränderungen vor allem bei der Mängelgewährleistung ergeben, welche?
Gsell: Ja, hier wird vor allem dem für digitale Produkte und Elemente typischen Bedürfnis nach Aktualisierungen, also Updates, Rechnung getragen. Dementsprechend kann selbst bei einmaliger Lieferung nicht mehr länger der Gefahrübergang einzig maßgeblich sein für die geschuldete Qualität. Vielmehr wird der Unternehmer zu Updates verpflichtet. Das ist eine wichtige vertragsrechtliche Anerkennung tatsächlicher Besonderheiten digitaler Leistungen, die aber selbstverständlich auch für B2B-Verträge sachgerecht wäre.
Eine weitere – von der Digitale-Inhalte-Richtlinie und der Warenkauf-Richtlinie – geforderte Neuerung ist die stärkere Betonung objektiver Qualitätsanforderungen und die Erschwerung der Vereinbarung sogenannter negativer Beschaffenheitsvereinbarungen, mit denen gleichsam ein qualitativer Substandard vereinbart wird. Ob sich damit das Spannungsverhältnis zwischen einerseits der Freiheit der Parteien, den Vertragsgegenstand zu bestimmen und andererseits zwingendem Gewährleistungsrecht restlos auflösen lässt, wage ich allerdings zu bezweifeln. Denn ob ein unzulässiger Substandard vereinbart wurde oder nicht, hängt stets davon ab, welcher Vergleichsgattung der Vertragsgegenstand angehören soll und dies kann am Ende doch nur durch die Parteien, also subjektiv, bestimmt werden. Beispielsweise kann ich ein „zum Ausschlachten“ verkauftes Auto nicht ohne Weiteres mit einem fahrtüchtigen Fahrzeug vergleichen.
Bemerkenswert ist schließlich die Vorgabe der Warenkauf-Richtlinie, die bisherige Vermutung, dass ein Mangel, der sich binnen sechs Monaten zeigt, bereits bei Gefahrübergang vorlag, auf ein Jahr zu erstrecken. Ich halte die Missbrauchsgefahren dieser Ausdehnung der Beweislastumkehr übrigens für gering. Denn der Verbraucher muss ja, wenn ein Unternehmer den Mangel gleichwohl leugnet, weiterhin sein Recht erst gerichtlich durchsetzen.
Lässt sich abschätzen, ob das neue Gewährleistungsrecht unmittelbaren Einfluss auf den Markt und seine Produkte nehmen wird?
Gsell: Das denke ich schon. Ich könnte mir etwa vorstellen, dass Unternehmer versuchen werden, durch präzise und deutliche Angaben zur Gebrauchsdauer digitaler Produkte oder Sachen mit digitalen Elementen die Verbrauchererwartung zu prägen. Diese ist nach neuem Recht für die Bestimmung des Zeitraumes für obligatorische Aktualisierungen maßgeblich. Dies verspricht mehr Transparenz. Ich weiß dann etwa, wenn ich ein Smartphone kaufe, wie lange ich mit Updates rechnen darf. Dabei halte ich es für denkbar, dass der Markt künftig stärker differenziert zwischen einerseits digitalen Produkten mit einer angekündigten kurzen Lebensdauer zu einem geringeren Preis, und andererseits teureren Produkten mit garantiert längeren Aktualisierungen.
Was bedeuten die Neuregelungen für die bereits bestehenden Vertragstypen?
Gsell: Weil Digitalverträge häufig gemischte Verträge sind, die in ihrer Vielfalt aber auch keinen einheitlichen neuen Vertragstyp bilden, halte ich die Entscheidung des Regierungsentwurfes für klug, die Umsetzung der Digitale-Inhalte-Richtlinie im allgemeinen Vertragsrecht anzusiedeln. In einem nächsten Schritt würde ich mir wünschen, dass der Gesetzgeber gleichsam eine „Binneninventur“ des besonderen Vertragsrechts vornimmt und Regelungsunterschiede zwischen den einzelnen Vertragstypen, die nicht sachlich gerechtfertigt sind, möglichst beseitigt. Damit wären wir besser gerüstet für die bleibende Herausforderung, Digitalverträge als Mischverträge vertragsrechtlich angemessen zu erfassen. Die Regime der einzelnen Vertragstypen würden sich weniger stark widersprechen. Begründete Sonderregelungen der einzelnen Typen hätten aber Bestand und könnten auf Mischverträge mit dem jeweiligen besonderen Merkmal erstreckt werden.
Lassen Sie uns konkret auch noch auf die Omnibus-Richtlinie eingehen. Warum heißt diese eigentlich so?
Gsell: Das hat selbstverständlich nichts mit dem Personentransport zu tun. Vielmehr soll der lateinische Begriff („für alle“ oder „allen“) zum Ausdruck bringen, dass gleich vier verbraucherrechtliche Richtlinien reformiert werden, und zwar die Verbraucherrechte-RL 2011/83/EU, die Klausel-RL 93/13/EWG, die Preisangaben-RL 98/6/EG und die Geschäftspraktiken-RL 2005/29/EG. Die Omnibus-Richtlinie ist also gewissermaßen ein „Gemischtwarenladen“. So ist der Bogen gespannt von etwa der Einbeziehung von Digitalverträgen, bei denen der Verbraucher mit seinen Daten „zahlt“, in die Verbraucherrechte-RL 2011/83/EU bis hin zu einem einheitlichen Sanktionsregime, das für die Ahndung weitverbreiteter Verstöße gegen Unionsverbraucherrecht sowie weitverbreiteter Verstöße mit Unions-Dimension – beides im Sinne der Kooperations-Verordnung (EU) 2017/2394 – Geldbußen von bis zu mindestens 4% des Jahresumsatzes des betroffenen Unternehmens vorgibt.
Alternativ zu „Omnibus-RL“ ist übrigens die Bezeichnung als „Modernisierungs-RL“ gebräuchlich.
Welcher Aspekt ist bei der Umsetzung dieser Richtline aus juristischer Sicht besonders interessant?
Gsell: Bemerkenswert ist, dass bei Verstößen gegen verbrauchervertragsrechtliche Vorschriften des BGB künftig nicht mehr nur die einschlägigen privatrechtlichen Sanktionen wie insbesondere Schadensersatzansprüche eingreifen, sondern unter Umständen eine Ordnungswidrigkeit in Betracht kommt, die bußgeldbewehrt ist.
In vertragsrechtlicher Hinsicht scheint mir – parallel zur Umsetzung der Digitale-Inhalte-Richtlinie und der Warenkauf-Richtline – besonders interessant, inwieweit das BGB-Vertragsrecht eine Digitalisierungsfärbung erhält. Bemerkenswert ist etwa, dass sich der Vertrieb über einen „Online-Marktplatz“ künftig explizit im BGB wiederfindet mit Informationspflichten für den Betreiber insbesondere zum Ranking der Produkte, die dem Verbraucher bei einer Suchanfrage präsentiert werden.
Eine wichtige Neuerung bringt die Omnibus-RL schließlich insofern, als sie Verbrauchern bei unlauteren Geschäftspraktiken einen individuellen Schadensersatzanspruch einräumt. Diese Vorgabe wird aber im UWG umgesetzt.
Noch eine Frage zum Schluss: Das umzusetzende Recht tritt im Jahr 2022 in Kraft. Welche Vorbereitungen sollten Juristinnen und Juristen dennoch jetzt schon treffen?
Gsell: Ich empfehle allen betroffenen Verkehrskreisen sowie denjenigen, die sie juristisch beraten, sich rechtzeitig auf die neue Rechtslage einzustellen. Mit den vorliegenden Regierungsentwürfen ist bereits weitgehend klar, wohin die Reise geht. Dementsprechend empfehle ich allen betroffenen Verkehrskreisen sowie denjenigen, die sie juristisch beraten, sich rechtzeitig auf die neue Rechtslage einzustellen.
Wer etwa als Unternehmer künftig gewährleistungsrechtlich Updates leisten muss, wird sich ebenso darauf vorbereiten müssen wie Betreiber eines „Online-Marktplatzes“ einen gewissen organisatorischen Vorlauf benötigen werden, ihr Informationsregime an das neue Recht anzupassen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Zur Person:
Professorin Beate Gsell befasst sich intensiv mit der Umsetzung der neuen EU-Richtlinien und ihren Auswirkungen auf das BGB. Sie ist zugleich Mitherausgeberin des beck-online.GROSSKOMMENTAR zum Zivilrecht.
beck-online.GROSSKOMMENTAR zum Zivilrecht: BeckOGK
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Der Leitkommentar für das 21. Jahrhundert: 4 Gesamtherausgeber, 25 Herausgeber und über 400 Autoren – die Elite der Zivilrechtswissenschaftler und Zivilrechtspraktiker – kommentieren online auf 50.000 Seiten alle wichtigen Gesetze zum Zivilrecht. Mit vierteljährlicher Aktualisierung und 100.000-fach verlinkt mit allen Inhalten von beck-online.