Große Betreuungsrecht-Reform: „Umfangreiche Neugestaltung fast aller Vorschriften“

Was sind die zentralen Neuerungen der Betreuungsrecht-Reform? Und was bedeuten die Änderungen für die Praxis? 

Ein Gastbeitrag von Annette Loer, Richterin am AG Hannover und Autorin im Jürgens, Betreuungsrecht

 

Die große Reform des Betreuungsrechts tritt nach langer Vorbereitung am 1.1.2023 in Kraft.

Vorausgegangen waren zwei umfangreiche Forschungsstudien und ein intensiver eineinhalbjähriger Diskussionsprozess, an dem mehrere Facharbeitsgruppen unter Beteiligung aller Akteure aus verschiedenen Blickwinkeln, wie auch der betroffenen Menschen selbst in einem Selbstvertreterworkshop, mitgewirkt haben.

Herausgekommen ist ein Kompromiss, der sich sehen lässt. Der Gesetzentwurf samt Begründung umfasst 500 Seiten (BT-Drs. 19/24445). Natürlich gibt es aus jeder Perspektive Luft nach oben, aber alle am Reformprozess Beteiligten sind hoch zufrieden, sowohl mit dem Prozess wie auch mit dem Ergebnis.

Vor uns liegt eine umfangreiche Neugestaltung fast aller Vorschriften. Verbunden wurde sie mit der Reform des Vormundschaftsrechts. Das hat zur Folge, dass sich alle an neue Nummern gewöhnen müssen. Die Regelungen der Vermögenssorge und der gerichtlichen Aufsicht sind aus dem Vormundschafts- ins Betreuungsrecht gewandert.

Betreuung ist jetzt „befreit von den Überresten eines bevormundenden Rechtsdenkens“

Eine „sinngemäße“ Anwendung von vormundschaftsrechtlichen Regelungen im Betreuungsrecht, die die Gefahr von Missverständnissen mit sich brachte, ist damit endgültig vorbei.

Die Betreuung folgt ganz eigenen Maßstäbe und wendet sich damit endgültig - nach 30 Jahren Betreuungsrecht - von der Vormundschaft und seiner Entmündigung ab, befreit von den letzten Überresten eines bevormundenden Rechtsdenkens.

 

Stärkung der Selbstbestimmung als Paradigmenwechsel

Das zentrale und alles überragende Anliegen der Betreuungsrecht-Reform ist die Stärkung der Selbstbestimmung betreuter Menschen. Gesprochen wird von einem Paradigmenwechsel.

Motor ist die seit 2009 in Deutschland unmittelbar geltende Verpflichtung aus Art. 12 UN-BRK, die die Reform angetrieben hat: Orientiert am individuellen Unterstützungsbedarf ist das gesamte System des Betreuungsrechts effektiv darauf auszurichten, der Person den Zugang zur der Unterstützung zu gewähren, den sie bei der Ausübung ihrer rechtlichen Handlungsfähigkeit konkret benötigt.

Betreuung ist also Unterstützung bei der Verwirklichung eigener Lebenspläne und nicht gut gemeinte, aber fremdbestimmte Fürsorge. Die alte Vormundschaft mit ihrer Entmündigung muss endgültig raus aus den Köpfen.

 

„Betreuerinnen und Betreuer dürfen nur nach den Wünschen der Betreuten handeln“

Die weiterhin bestehende Vertretungsmacht, die rechtliche Betreuerinnen und Betreuer mit ihrer Bestellung durch das Betreuungsgericht erhalten, ist ein Instrument, das bei Bedarf genutzt werden kann, um Menschen mit Beeinträchtigungen rechtlich handlungsfähig zu machen. Deshalb dürfen Betreuerinnen und Betreuer nur nach den Wünschen der Betreuten handeln.

Die „Wohlschranke“, die bisher häufig dahingehend missverstanden wurde, dass es um ein objektives Wohl gehe, ist gekippt. Im gesamten Gesetzestext wurde auf den Begriff des „Wohls“ konsequent verzichtet.

 

Herausforderung: Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Fürsorge

Gleichzeitig hat das Betreuungsrecht die Aufgabe, die betroffenen Personen vor einer erheblichen Selbstgefährdung zu schützen, wenn diese gerade nicht mehr Ausdruck ihrer Selbstbestimmung ist. Das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Fürsorge, Selbstbestimmung und Schutz bleibt auch im neues Gesetz erhalten und für die Praxis eine ständige Herausforderung.

Mehr Eigenverantwortlichkeit ist auch mit mehr Risiken verbunden. Eine Abwägung darf sich nicht an objektiven Kriterien orientieren, sondern allein an den subjektiven Vorstellung und Präferenzen der betroffenen Person. Dies wird in der zentralen Norm § 1821 BGB, der „Magna Charta“ des Betreuungsrechts, neu austariert.

Die betroffene Person steht im Mittelpunkt. Ihre Wünsche sind zentraler Anknüpfungspunkt, und zwar gerade auch solche Wünsche, die nicht Ausdruck eines freien Willens sind. Die Selbstbestimmung Erwachsener endet nicht mit dem Eintritt der Geschäfts- oder Einwilligungsunfähigkeit.

 

Betreuungsrecht-Reform: Neue Aufgaben für alle Akteure

Auf alle Akteure, genannt seien die vier großen Säulen – nämlich die Betreuungsbehörden, die Betreuungsvereine, die beruflichen Betreuerinnen und Betreuer und die Betreuungsgerichte –  kommen neue Aufgaben zu.

Gestärkt wurde u.a. auch der Erforderlichkeitsgrundsatz, und zwar sowohl im Vorfeld wie innerhalb der rechtlichen Betreuung. Da eine Betreuung immer auch einen potenziellen Grundrechtseingriff bedeutet, ist vor einer Bestellung stets zu fragen, ob andere niederschwellige Maßnahmen herangezogen werden können, um die notwendige Unterstützung bei der Erledigung der Angelegenheiten zu leisten.

Zu denken ist verstärkt an sozialrechtliche Maßnahmen, die durch die Betreuungsbehörden vermittelt werden sollen. Auch innerhalb einer bestehenden Betreuung soll die Tätigkeit auf das Erforderliche begrenzt werden. Andere Hilfen dürfen sich nicht deswegen zurückziehen, weil eine Betreuung besteht.

 

„Unterstützte Entscheidungsfindung“ und „Assistenz vor Vertretung“

Hier sind an der Schnittstelle zum Sozialrecht, das ebenfalls Änderungen durch die Reform erfahren hat, dicke Bretter zu bohren. Betreuerinnen und Betreuer sollen zunächst ihre Betreuten befähigen, zu einer eigenen Entscheidung zu kommen – „Unterstützte Entscheidungsfindung“ ist hier das Zauberwort – und von ihrem Vertretungsrecht nur Gebrauch machen, soweit dies erforderlich ist: „Assistenz vor Vertretung“.

Die Betreuungsvereine haben ihre Querschnittstätigkeit zu aktivieren und insbesondere ehrenamtliche Betreuerinnen und Betreuer zu beraten. Dafür haben sie zukünftig Anspruch auf eine bedarfsgerechte Finanzierung. Viel Erfolg bei den anstehenden Verhandlungen!

Die Betreuungsgerichte müssen die betroffene Person und ihre Wünsche ins Zentrum stellen. Sie dürfen nicht Objekt des gerichtlichen Verfahrens sein. Die Aufsicht des Gerichts hat sich ebenfalls an der neuen Ausrichtung zu orientieren. Es ist Garant der rechtsstaatlich gebotenen Qualität der Betreuungsführung durch Beratung, Aufsicht und Kontrolle der Betreuerinnen und Betreuer. Mehr Kontakte zu den betreuten Menschen werden erforderlich sein.

Ein wesentliches Element der Qualitätssicherung besteht darin, die berufliche Betreuung zu stärken und zu verbessern. Rechtliche Betreuung ist ein anspruchsvoller Beruf mit einem hohen Maß an Verantwortung und weitreichenden Eingriffsbefugnissen.

Die betreuten Personen befinden sich häufig wegen der Schwere und Auswirkungen ihrer Erkrankung oder Behinderung in einer besonderen Lebenssituation, die von einer erhöhten Vulnerabilität gekennzeichnet ist.

 

Registrierungsverfahren für Berufsbetreuerinnen und Berufsbetreuer

Um sie bei der Ausübung ihrer Selbstbestimmung zu unterstützen, bedarf es besonderer Kenntnisse und Fähigkeiten. Daher wird ganz neu ein Registrierungsverfahren für berufliche Betreuerinnen und Betreuer eingeführt, in dem die Bewerberinnen und Bewerber künftig ihre persönliche und fachliche Eignung nachweisen müssen.

Damit wird endlich ein eigenes Berufsbild geschaffen mit einer formalen Anerkennung und einem geregelten Berufszugang in einem bundeseinheitlichen Verfahren nach transparenten und klaren Regeln.

Nun geht es an die Umsetzung - nur gemeinsam. Niemand erwartet, dass sich mit dem 1.1.23 die Rechtswirklichkeit komplett ändert. Der gemeinsame Wille zur Verwirklichung der Reform ist jedoch Voraussetzung und beginnt mit einer neuen Haltung, für ein Betreuungswesen, das die Betroffenen so weit wie möglich zu eigenen Entscheidungen befähigt, ihr Selbstbestimmungsrecht in den Mittelpunkt stellt und sie nicht bevormundet.

 

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Mehr Titel wie diesen finden Sie in unserer Gesamtübersicht "Betreuungsrecht Kommentar".

 

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Die Autorin

Annette Loer ist Leiterin des Betreuungsgerichts am Amtsgericht Hannover u.a. Autorin im Standard-Kommentar Jürgens Betreuungsrecht. Für ihr ehrenamtliches Engagement beim Frauennotruf für vergewaltigte Frauen wurde die Hannoveranerin 2014 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Seit 2005 ist Annette Loer Mitglied einer Besuchskommission und besucht in ihrer Freizeit regelmäßig und unangekündigt Psychiatrien und Heime, um Missstände aufzudecken und die Betreuungsqualität zu verbessern.

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