EMRK: Bleiberecht ist Menschenrecht

Beitrag von Rechtsanwalt Dr. Matthias Lehnert

 

In Deutschland leben zwischen 200.000 und 250.000 Menschen mit einer Duldung. Die Duldung ist kein Aufenthaltspapier, sie gibt kein Bleiberecht. Menschen mit einer Duldung sind rechtlich ausreisepflichtig – gesellschaftlich wird ihnen signalisiert, dass sie kein Teil eben dieser Gesellschaft sind, dass sie so schnell wie möglich verschwinden sollen. Tatsächlich haben es Menschen mit einer nur für eine kurze Dauer ausgestellten Duldung schwerer als andere, eine Arbeitsstelle oder eine Wohnung zu finden. Und wie kann ein Kind eine Lebensperspektive, Wünsche und Pläne entwickeln, wenn es eigentlich nicht dazugehört zu diesem Land, wenn es nicht weiß, ob es in ein paar Jahren ausreisen muss in das Land seiner Eltern, das es selbst nicht kennt.

Was bedeutet Duldung in Deutschland?

Wenn die Ausländerbehörde einem Menschen eine Duldung ausstellt, kann das verschiedene Gründe haben, das ergibt sich aus dem Gesetz, es ist geregelt in den §§ 60a ff. AufenthG. Mitnichten scheitert die Ausreisepflicht immer daran, dass der Herkunftsstaat die betroffenen Menschen nicht zurücknimmt oder die richtigen Papiere nicht vorliegen. Viele Menschen werden geduldet und dürfen nicht abgeschoben werden, weil die Familie lebt; weil sie krank sind und nicht reisen können; oder weil die Situation in ihrem Herkunftsland, etwa Afghanistan, Somalia oder ganz aktuell der Sudan, eine Rückkehr nicht möglich macht.

 

Chancenaufenthaltsrecht: Für wen es gilt und was es bringt

Die politische Diskussion über den Umgang mit ausreisepflichtigen Menschen ist deutlich schlichter: Es wird der Eindruck erweckt, dass der Staat nur eine harte Hand anlegen müsse, um sich der Menschen zu entledigen, die eigentlich nicht hier sein dürften. Auf der anderen Seite werden regelmäßig, aus humanen oder auch wirtschaftlichen Motiven heraus, Versuche unternommen, durch Reformen des Aufenthaltsgesetzes denjenigen Menschen eine Brücke in das Bleiberecht zu bauen, die schon länger in Deutschland leben, hier arbeiten, zur Schule gehen. Zuletzt hat die aktuelle Bundesregierung eine solchen Versuch unternommen, mit der Einführung des sogenannten Chancenaufenthaltsrechts: Die Menschen, die am Stichtag zum 31.10.2022 fünf Jahre in Deutschland gelebt haben, bekommen eine Aufenthaltserlaubnis und die Chance, sich durch Arbeit oder Ausbildung eine Bleibeperspektive in Deutschland zu erarbeiten. Man darf gespannt sein, wie vielen Menschen diese Möglichkeit tatsächlich eine bessere Perspektive geben kann.

 

Schutzumfang des Art. 8 EMRK

Aus rechtlicher Perspektive muss ergänzt werden: Der Umgang mit Menschen mit Duldung ist nicht nur eine politische Frage, sie ist eine Frage der Menschenrechte, nicht zuletzt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention: Art. 8 EMRK schützt das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Ausgehend von der insofern sehr reichhaltigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) beinhaltet dieses Recht auch ein Verbot von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie das Gebot, ein Bleiberecht zu ermöglichen, und zwar dann, wenn eine Person über starke persönliche, berufliche, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Beziehungen in einem Konventionsstaat, in diesem Fall in Deutschland, verfügt.

 

Grundlegende Entscheidungen des EGMR zu Abschiebung und Bleiberecht

In den insoweit grundlegenden Entscheidungen Moustaqim gg Belgien (EGMR 18.2.1991 – 12313/86) sowie Boultif gg Schweiz (2.8.2001 – Nr. 54273/00) hat der EGMR ausgeführt, dass in jedem Einzelfall die vermeintliche Zumutbarkeit einer Ausreise mit dem Grad der Verwurzelung abgewogen werden muss. Dabei soll es auf unterschiedliche Aspekte ankommen: Ob eine schulische Ausbildung absolviert wird oder wurde, Sprachkenntnisse, persönliche Kontakte, wirtschaftliche Beziehungen vorhanden sind und auf der anderen Seite die Zumutbarkeit einer Reintegration im Herkunftsland berücksichtigt werden muss und damit aufenthaltsbeendende Maßnahmen entgegenstehen.

 

Gesetzliche Regelung in Deutschland

Diese Maßgaben können durch einfachgesetzliche Bestimmungen Eingang in die Praxis finden, im deutschen Recht ist das insbesondere § 25 Abs. 5 AufenthG, der eine Aufenthaltserlaubnis vorsieht, wenn eine Abschiebung aus rechtlichen Gründen unmöglich ist. Das Abschiebungshindernis kann hier das Menschenrecht aus Art. 8 EMRK sein.

 

Einfluss von EGMR-Entscheidungen

Auffällig ist, dass diese Maßgaben dennoch nicht allzu häufig Eingang finden in die Einzelfallentscheidungen der Ausländerbehörden: Man scheut sich hier vor komplexen Abwägungen im Geist der Menschenrechte. Ganz grundsätzlich haben es internationale Gerichtsentscheidungen eher schwer in deutschen Amtsstuben und Gerichtssälen.

 

Menschenrechte sind keine Schönwetterveranstaltung

Umso wichtiger bleibt es zu betonen, zumal in diesen Tagen Menschenrechte für Geflüchtete wieder einmal in Frage gestellt werden, wie zuletzt vom ehemaligen Gesundheitsminister Spahn: Menschenrechte sind keine Schönwetterveranstaltung, und die Europäische Menschenrechtskonvention ist kein schmuckes Beiwerk des rechtlichen Kanons, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist auch nicht nur für die Klärung einzelner großer Fragen da: Die Menschenrechte aus der EMRK müssen in jedem Einzelfall beachtet werden, in jeder Amtsstube, Ausländerbehörden inklusive.

 

Das Buch

Der Handkommentar zur EMRK ist meinungsprägend, wenn es um den effektiven Grundrechtsschutz durch eine präzise Interpretation der Europäischen Menschenrechtskonvention geht. Sämtliche Artikel der EMRK einschließlich der Protokolle werden an der Spruchpraxis des EGMR orientiert erläutert. Die prozessuale Durchsetzung der Konvention wird immer mit in den Blick genommen, mit Hinweisen für die Antragsformulierung und Beispielen aus der EGMR-Spruchpraxis.

Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer (Hrsg.)

EMRK Europäische Menschenrechtskonvention

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Der Autor

Dr. Matthias Lehnert

ist seit 2014 als Rechtsanwalt tätig in der Kanzlei Jentsch Rechtsanwälte. Kanzlei für Aufenthaltsrecht in Leipzig. Er ist Autor u.a. des Nomos Verlages.

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Stand: Mai 2023

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